Fluchtpunkt Antisemitismus

Wilhelm Heitmeyer

Bildquelle: taz

07.12.2010
Fluchtpunkt Antisemitismus
Neue Studie: Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht zunehmende Entsolidarisierung des Bürgertums
Von Jürgen Amendt
Deutsche Zustände: Fremdenfeindlichkeit breitet sich hierzulande ausgerechnet in der Schicht aus, die bislang als relativ immun gegen Intoleranz galt und die sich selbst gern als liberal und aufgeschlossen bezeichnet – im gehobenen Bürgertum. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer attestiert bei Einkommensbeziehern ab 2600 Euro netto im Monat eine grassierende Angst vor allem Fremden, die sich in Islamfeindlichkeit äußert. Seit vielen Jahren untersucht Heitmeyer die soziale Befindlichkeit der Deutschen und erstmals zeigt sich, dass in der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders bei den Wohlhabenden im Land die Ressentiments zugenommen haben. Islamophobie, so Heitmeyer bei der Vorstellung der Studie letzten Freitag, steige auch im politisch sich links von der Mitte verortenden Milieu. Und: In der Krise nimmt auch der Antisemitismus wieder zu. Das Bürgertum verrohe zunehmend, resümierte der Bielefelder Wissenschaftler.
Für den Philosophen Theodor W. Adorno befand sich unter dem Lack der Zivilisation stets die Barbarei. Aufklärung, Humanität, Nächstenliebe, Empathie – all diese Werte, mit denen sich bürgerliche Gesellschaften versichern, besser zu sein als der archaische, derbe bäuerlich-proletarische Schoß, aus dem sie sich einst entwickelten, sind fragil und stehen zur Disposition, wenn die Zivilgesellschaft, wie die bürgerliche Gesellschaft euphemistisch genannt wird, in Bedrängnis gerät. Wer sich – auch nur scheinbar – nicht einfügt in das »sture Leben, in das man sich schickt« (Adorno), dem wird die bürgerliche Wertschätzung versagt. Eine Mehrheit in der Schweiz hat das vor Wochenfrist mit der Entscheidung demonstriert, straffällig gewordene und verurteilte Ausländer nach Verbüßung der Haft ohne Einzelfallprüfung abzuschieben. Auch in Italien, den Niederlanden, Belgien, also um uns herum, separiert die bürgerliche Gesellschaft in ein »Wir« und »die Anderen«.
Dass Deutschland bislang keinen Politiker vom Schlage des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders kennt, der die Intoleranz zum alleinigen Programm erhoben hat und damit erfolgreich ist, liegt in erster Linie an einem historisch begründeten moralischen Abwehrreflex gegen alles, was im Ruch steht, Erinnerungen an die NS-Zeit im In- und Ausland wachzurufen. Doch beruhigen kann das nicht. Denn bislang galt auch: Rassismus kommt von unten, wird von oben dann und wann befeuert, nie aber geteilt. Mit dem Pöbel macht man sich nicht gemein! 20 Jahre lang mussten fast ausschließlich glatzköpfige junge Männer aus Ostdeutschland als Sinnbild für jene Verrohung herhalten.
Diese vornehme Zurückhaltung, die selbst stets nur Schauspiel war, um die dem »Pöbel« attestierte Verrohung bei sich selbst nicht erkennen zu müssen, wird jetzt aufgegeben. Sie kann aufgegeben werden, nachdem die Debatte um die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin dem dumpfen Ressentiment die bildungsbürgerlichen Weihen verliehen hat. »Man wird doch noch sagen dürfen …« schallt es jetzt nicht mehr von den Stammtischen des gemeinen Biervolkes. Bei einem guten Wein lässt es sich vortrefflich über »kriminelle Ausländer«, »Hartz-IV-Schmarotzer« und die »islamische Gefahr« räsonieren. Bedrohlich ist das vor allem, weil dieses Denken bis in die politische Linke hinein auf Zustimmung stößt – unter den Sympathisanten der Linkspartei findet die Forderung nach einer automatischen Abschiebung von straffällig gewordenen Ausländern nach Schweizer Vorbild mit 85 Prozent die höchste Unterstützung innerhalb des demokratischen Parteienspektrums.
Der Rassismus des »Pöbels« ist wenig gegen ein Bürgertum, das sich in Selbstaufgabe in den Antisemitismus flüchtet, weil es um seine Privilegien fürchtet. Davor gefeit zu sein, heißt zu erkennen: Aufklärung, Humanität, Nächstenliebe, Empathie rechnen sich ökonomisch nicht, wir brauchen sie aber um unser selbst willen!

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