Teil der Kultur: Türkische und arabische Zuwanderer. Foto: reuters

Wer Integration will, darf Kontroversen nicht ausweichen

Die Debatte über Zuwanderung muss mit Argumenten geführt werden, nicht mit der Faust oder mit oberflächlichen Schlagworten.

Das Buch von Thilo Sarrazin hat eine breite, heftige und von vielen Ideologien gesteuerte Diskussion entfacht. Die Meinungen sind geteilt. Sie offenbaren ein nicht zu übersehendes Phänomen: auf der einen Seite eine Vielzahl von Bürgern, die die in dem Werk gemachten Aussagen als Befreiung empfunden haben, angesichts ihrer täglich gemachten Erfahrungen; auf der anderen Seite die intellektuellen Gutmenschen in der Politik und gehobenem Boulevard.

Als Brücke zur Lösung der Probleme wird wieder einmal die Bildung angesprochen. Der gebildete Immigrant, so die These, würde sich leichter integrieren. Das gilt besonders für Sprache, aber vor allem für die berufliche Qualifikation. Der Immigrant findet Arbeit, zahlt Steuern und fällt den Sozialsystemen nicht zur Last.

Das alles hat seine Berechtigung. Integration bedeutet konfliktfreie Zueinanderordnung, für den Immigranten zumeist die Einordnung in das gesellschaftliches System des Gastgeberlandes. Da kann bei nachdenklichen Immigranten auch schon mal Nachdenklichkeit aufkommen.

Soll er sich wirklich integrieren in eine Gesellschaft, in der gegebene Versprechen nichts mehr gelten, in der 50Prozent der Ehen geschieden werden, soll er sich integrieren in eine Gesellschaft, in der der Mensch nur noch als Instrument der Vermehrung des Wohlstandes gesehen wird, in der religiöse Bindung nichts mehr gilt, in der jeder Tabubruch als kreative Leistung geehrt wird. Vieles lässt sich anführen, was den nachdenklichen Immigranten von dieser Einpassung abhält.

Besinnung auf die Wurzeln

Vielleicht ist es nicht ganz sinnlos, auch diesen Aspekt von Integration zu bedenken. Vielleicht könnte man – angesichts des Problems der Integration – eine kritischen Selbstbetrachtung vornehmen, um sich auf die Wurzeln unserer Kultur zu besinnen, auf das Erbe von Christentum, Judentum und Aufklärung. In diesem Verständnis ist es auch nicht unangebracht, von einer Leitkultur zu sprechen, die im Grundgesetz über die allgemeinen Menschenrechte ihren sprachlichen Niederschlag gefunden hat.

Integration, so die allgemeine Meinung, beruhe auf dem Prinzip der Toleranz. Das ist zumindest widersprüchlich. Um es allgemein zu fassen: Toleranz ist zu wenig und zu viel gleichzeitig. Sie ist zu wenig, wenn ich dem lateinischen Wortsinn nach den anderen nur ertrage und dulde. Ich schulde ihm Achtung.

Toleranz als Ruhekissen

Für viele allerdings ist Toleranz nur ein bequemes Ruhekissen der eigenen Feigheit und des Mangels an Mut zur eigenen Überzeugung, die in der verbreiteten Beliebigkeit ihren angenehmen Platz findet. Um es radikaler zu formulieren: Toleranz ist keine Tugend an sich. Wir verurteilen mit gutem Gewissen, denjenigen, der der nationalsozialistischen Diktatur mit Toleranz begegnete, wir verurteilen den, der wegschaut, wenn Unrecht und Gewalt öffentlich wird, preisen aber gleichzeitig Toleranz und erklären sie gar zu einem Bildungsziel.

Toleranz bedarf der Urteilsfähigkeit. Wo diese fehlt, wird sie zum Vorwand für Gleichgültigkeit. Diese erzeugt Angst und wird leicht zur Abwehrhaltung oder zur Missachtung des anderen. Ohne eigenen Standpunkt kann Integration nicht gelingen.

Wer die Beliebigkeit zu seinem Standpunkt wählt, kann auch vor der Überzeugung des anderen keine Achtung haben. Wenn dann auch der Staat in dieser Beliebigkeit nicht die Pflicht zur Einhaltung von Gesetz und Ordnung wahrnimmt und Entscheidungen in falsch verstandener Toleranz scheut, dann fühlt sich der Bürger bedroht und wird fremdenfeindlich.

Politik setzt auf kurzfristige Erfolge und empfiehlt technische Trainings. Sie werden nichts bringen, solange nicht ein neues Bewusstsein Politik und Gesellschaft leitet: zum Beispiel, solange eine gewalttätige Sprache unsere Öffentlichkeit beherrscht, solange nicht das reine Zweckdenken überwunden ist, solange oberflächliche Geschwätzigkeit die öffentliche Meinung beherrscht.

Mangelnde Integration erzeugt Angst. Sie ist in vielen Fällen verständlich: wenn der Immigrant nicht die Grundsätze unseres Zusammenlebens kennt und nicht als verbindlich anerkennt, wenn der Staat seiner Schutzfunktion nicht mehr nachkommt, weil er jedes Urteil und auch die eine allfällige Verurteilung meidet, um nicht als ausländerfeindlich zu gelten.

Neue Form des Kolonialismus?

Auch hier mangelt es an Urteilskraft, am Mut zu einer dezidierten Stellungnahme. Auch hier hat die Beliebigkeit die vorherrschende Meinung erobert, umso besser kann man seine vordergründigen Machtinteressen vertreten, seine Prinzipien über Bord werfen, wenn es der Machtsicherung dient.

Wer Integration will, darf der Auseinandersetzung nicht ausweichen. Diese muss mit Argumenten geführt werden, nicht mit der Faust und auch nicht mit oberflächlichen Schlagworten.

Von der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist viel die Rede. Wir selbst haben ja nicht genug Kinder. Man könnte sich fragen, ob hier nicht eine neue Form von Kolonialismus im Entstehen ist. Wir überlassen das Gebären und Aufziehen den anderen; wenn sie entsprechend qualifiziert sind, locken wir sie zur Steigerung unseres Wohlstands in unserer Land und beruhigen unser Gewissen damit, dass wir Entwicklungshilfe leisten.

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