Menschenrechte Grundlage der Debatte um Integration und Zuwanderung

Prof. Dr. Beate Rudolf © DIMR/ S. Pietschmann

Stellungnahme
Menschenrechte müssen Grundlage der Debatte um Integration und Zuwanderung sein

Ressentiments gegenüber Muslimen, wahlweise und austauschbar verwendet auch gegenüber „Türken“ und „Arabern“, werden zunehmend öffentlich ausgesprochen. Inzwischen betreiben auch im politischen Raum einzelne Akteure eine solche Stigmatisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen. So wird eine Stimmung der Abwertung und Ausgrenzung von Menschen erzeugt und einer Spaltung der Gesellschaft Vorschub geleistet. Äußerungen und Veröffentlichungen, die Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen forcieren und damit deren Abwertung befördern, kann eine auf Menschenrechten basierende Gesellschaft nicht hinnehmen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte erinnert daher an die Menschenrechte als Grundlage für die gegenwärtige Integrations- und Zuwanderungsdebatte.
I.
Zu oft wird derzeit in Frage gestellt, was vor einigen Wochen in der Öffentlichkeit und in der Politik noch selbstverständlich erschien: die Gleichheit aller Menschen und der Respekt vor der Individualität, Freiheit und Würde jedes Einzelnen. Es geht dabei um fundamentale Grundsätze unserer Verfassungsordnung und damit um Grundlagen eines demokratischen und auf Menschenrechten ruhenden Gemeinwesens, das in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland entwickelt und gefestigt wurde. Dem Grundgesetz und der Kodifizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegen die Einsicht und Anerkennung zugrunde, dass alle Menschen in ihrer Würde und in ihren Rechten gleich sind. Diese Grundsätze und damit das Verbot von Diskriminierung bilden das Fundament einer demokratischen Gesellschaftsordnung.
Wer Menschen zu Gruppen zusammenfasst und ihnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer „Kultur“ oder ihres Herkunftsstaates pauschal bestimmte Eigenschaften zuschreibt, wie etwa Integrationsunfähigkeit, negiert fundamentale völker- und verfassungsrechtliche Prinzipien der Gleichheit und Nichtdiskriminierung. Wer Menschen so kategorisiert und stigmatisiert, spricht ihnen ihre Würde ab.
II.
Sofern es in der Debatte um die Einwanderungspolitik Deutschlands geht, wird teilweise der gegenwärtige Zustand verzerrt dargestellt. Nicht selten wird etwa ein Bild gezeichnet, wonach Zuwanderung nach Deutschland bisher keiner Steuerung unterliege, so dass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist aber nicht der Fall.
Gleichzeitig werden Vorschläge für eine Veränderung der Zuwanderungspolitik gemacht, als ob der Gesetzgeber bei der Gestaltung von Zuwanderung und Aufenthalt völlig frei wäre. Solche Vorschläge ignorieren, dass Deutschland menschenrechtlichen und flüchtlingsrechtlichen Bindungen unterliegt. Diese Bindungen ergeben sich nicht nur aus internationalen und europäischen Menschenrechtsnormen, sondern auch aus dem Grundgesetz.
Menschenrechtliche und flüchtlingsrechtliche Bindungen haben zur Folge, dass Deutschland Menschen Schutz und Aufenthalt zu gewährleisten hat, wenn sie andernfalls – etwa in ihrem Herkunftsstaat – existenziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, wie der Folter oder anderer Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Diese durch Deutschland einzuhaltenden Schutzgarantien sind vor allem in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, in der Genfer Flüchtlingskonvention wie auch im Grundgesetz verankert.
Auch im Bereich des Ehegatten- und Familiennachzugs unterliegt Deutschland menschenrechtlichen Bindungen. Diese ergeben sich aus dem Schutz des Familienlebens, der in etlichen Menschenrechtsnormen verankert ist, etwa in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in Artikel 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und in Artikel 6 des Grundgesetzes.
Entscheidet sich Deutschland dazu, etwa zur Anwerbung von Fachkräften, eine aktivere Zuwanderungspolitik zu betreiben als bisher, wäre es – anders als es teilweise suggeriert wird – menschenrechtlich unzulässig, Menschen aufgrund der Zuschreibung von Eigenschaften, die an die Religionszugehörigkeit, „Kultur“ oder ihren Herkunftsstaat anknüpfen, von der Möglichkeit der Zuwanderung auszuschließen.
III.
 
Deutschland ist als Vertragsstaat zahlreicher Menschenrechtsabkommen wie der UN-Anti-Rassismus-Konvention und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte umfassende staatliche Verpflichtungen eingegangen. Menschenrechte müssen ständig beachtet, gewährleistet, praktiziert und verteidigt werden. Das bedeutet, dass der Staat Rassismus und Diskriminierung im politischen Raum und im öffentlichen Leben entgegentreten und Maßnahmen ergreifen muss, die Rassismus vorbeugen.
Stereotypisierungen und Stigmatisierungen von Menschengruppen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit, „Kultur“ oder nationalen Herkunft durch den Staat und seine Repräsentanten stehen im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Diese politischen Akteure sind in der Pflicht, in der Bevölkerung existierende Vorbehalte und Befürchtungen aufzugreifen und angemessen mit ihnen umzugehen. Das bedeutet, stereotype Darstellungen nicht zu bekräftigen, sondern sie durch präzise und differenzierte Beiträge zur öffentlichen Debatte zu widerlegen und Stigmatisierungen klar entgegenzutreten. 

Es sollte beispielsweise vermittelt werden, dass die Wirklichkeit vielschichtiger ist, als sie in der gegenwärtigen Debatte oft gezeichnet wird. Dazu gehört etwa, dass es „die Muslime“ genauso wenig gibt wie „den Islam“. Oder dass Erfolg oder Misserfolg im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt viele Ursachen haben können – persönliche, gesellschaftliche und strukturelle. Nur durch Präzision bei der Beschreibung von Sachlagen und Problemen lassen sich angemessene Lösungen entwickeln. Wer in der öffentlichen Debatte auf der Basis falscher Tatsachenbehauptungen politische Forderungen aufstellt, missachtet Verantwortung und Rationalität, die für die Entscheidungsfindung in einem demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar sind.
IV.

Regierung und Parlament sind besonders aufgefordert, die Koordinaten, die sich durch die momentane Debatte verschoben haben, wieder zurechtzurücken. Es ist ihre Aufgabe, Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenzutreten, um den Schutz vor Diskriminierung als fundamentalen Grundsatz unserer Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten. Den Medien kommt hier eine wichtige Aufklärungs- und Kontrollfunktion zu, der sie durch faktengetreue, faire und kritische Berichterstattung und durch Reflexion der eigenen Rolle in der Debatte gerecht werden können. Außerdem können und sollten sich Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften klar gegen Diskriminierung und Ausgrenzung aussprechen. Nur auf diese Weise kann der in den vergangenen Wochen verschobene Rahmen der öffentlichen Debatte um Integration und Zuwanderung wieder auf sein menschenrechtliches und verfassungsrechtliches Fundament zurückgeführt werden.

Berlin, 19. Oktober 2010

Autor, Autorin:
Dr. Hendrik Cremer, Wissenschaftlicher Referent am Deutschen Institut für Menschenrechte
Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte
Deutsches Institut für Menschenrechte
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