Öffentliche Stellungnahme

Stellungnahme des Elternverbandes Ruhr (EVR) und der Föderation der Türkischen Elternvereine in Deutschland (FÖTED) zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung: „Viertes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (4. Schulrechtsänderungsgesetz)“

Sehr geehrte Frau Ministerin Sylvia Löhrmann,

der Elternverband Ruhr ist seit seiner Gründung vor zwei Jahren intensiv um die Verbesserung der Bildungssituation insbesondere von Kindern mit Migrationshintergrund bemüht. Im Hinblick auf die geplanten Änderungen des Schulgesetzes des Landes Nord-Rhein-Westfalen möchten wir Ihnen daher diesbezüglich unsere Stellungnahme zukommen lassen.

Mit freundlichen Grüssen

Dr. Ali Sak

Vorsitzender Elternverband Ruhr

Stellv. Bundesvorsitzender der Föderation der Türkischen Elternvereine in Deutschland

Stellungnahme des Elternverbandes Ruhr (EVR) und der Föderation der Türkischen Elternvereine in Deutschland (FÖTED) zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung: „Viertes Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (4. Schulrechtsänderungsgesetz)“

1) Zu §11 (Prognoseunterricht):

Wir als Elternverband haben die Einführung der verpflichtenden Übergangsempfehlung mit dem 2. Schulrechtsänderungsgesetz im Jahr 2006 schon von Anfang an kritisiert.  Die Verbindlichkeit des Grundschulgutachtens wurde damals im Interesse „des Kindeswohls“ erhöht.  Hierdurch sollte die zu hohe Zahl der Schulformwechsel in der Sekundarstufe I verringert werden. Die hohe Zahl der Schulformwechsel begründet nicht die Schwächung des Elternwillens, denn wie Dr. Block (Universität Essen) anhand der PISA-Daten zeigen konnte, wirken sich Grundschulempfehlungen nicht nur hochgradig sozial selektiv aus, erweisen sich zudem auch als wenig verlässlich. Nach Block sei das Risiko, an einer falschen Schule zu landen aufgrund einer unzutreffenden Grundschulempfehlung rund 24-mal höher als aufgrund übersteigerter Erwartungen der Eltern. Vielmehr wirken sich die Grundschulgutachten sozial selektiv, da sie Schülern „bei gleicher Leistungsfähigkeit, aber unterschiedlicher sozialer Herkunft, unterschiedliche Übergangsempfehlungen ausstellen“. Baumert und Schümer (2001) haben zudem herausgefunden, dass Akademikerkinder,  bei gleicher Intelligenz und gleichen Leseleistungen, immer noch eine dreifach höhere Chance haben, ein Gymnasium zu besuchen als Arbeiterkinder. Die Möglichkeit des Prognoseunterrichtes haben unserer Erfahrung nach nur wenige Eltern mit Migrationshintergrund wahrgenommen, weil die meisten von den Schulleitungen nicht informiert wurden. Zudem belastet der Prognoseunterricht, bei relativ geringer Aussagequalität, in starkem Maße die Psyche des Kindes. Von den hierdurch entstandenen zusätzlichen Kosten in Höhe von etwa 2 Mio. Euro, die anderweitig viel nutzvoller eingesetzt werden können ganz zu schweigen. Der Elternverband befürwortet die vorgesehene neue Fassung des §11(4).

2) Zu den §§46 und 84 (Schuleinzugsbezirke):

Die Möglichkeit des Schulträgers Schuleinzugsbezirke zu bilden ist gerade in Regionen mit hohem Anteil von Migrantenkindern von besonderer Bedeutung für eine gesunde Mischung der Schülerschaft. In den letzten Jahren ist die Zahl  von sogenannten Nischenschulen mit SchülerInnen aus sozial benachteiligten Familien zugenommen, weil besser gestellte Eltern und damit Bildungsbewusste Eltern Ihre Kinder an Schulen mit einem geringen Migrationsprofil angemeldet haben. Daher ist unter dem Gesichtspunkt der Integration, des Zusammen-Lernens und –Lebens die Einführung von Schuleinzugsgrenzen als eine kurzfristige Notmaßnahme wünschenswert.

Obwohl es hierdurch zu einer Einschränkung des elterlichen Wahlrechts auf eine für ihr Kind geeignete Schule kommt, sollte dies zu Gunsten einer höher geordneten, nämlich die Erfüllung der Integrationsaufgabe zurückgestellt werden. Die Ausgangsituation von Schulen in Regionen mit hohem Migrantenanteil oder mit sozial benachteiligter Schülerschaft (u.a. hoher Anteil von Kindern mit sprachlichen Entwicklungsstörungen, viele mehrsprachige Schüler, wenig Unterstützung des Elternhauses) haben eine viel anspruchvollere und vielfältigere Aufgaben (u.a. Notwendigkeit von Deutsch als Zweitsprache, integrative Aufgaben, Unterstützung der Elternschaft) zu erfüllen. Daher sollten diese Schulen langfristig nach einem wohl definierten Schlüssel stärker gefördert werden und auch die Klassenstärke sollte diesbezüglich an die jeweiligen Erfordernisse angepasst werden. Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in Schulen sollte nach Möglichkeit eine bestimmte Obergrenze von maximal 50% nicht überschreiten. Zusätzliche Steigerung der Qualität dieser Schulen würde auch die Einführung von Schuleinzugsbezirken unnötig machen. Momentan scheint dies aber eine Utopie zu sein.

Im Sinne der Förderung der Integrationsaufgabe von Schulen sollten die Konfessionsschulen sich verpflichten einen bestimmten Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund aufzunehmen, ohne diesen den Konfessionsunterricht aufzuzwingen. Dieses Vorgehen würde der gesunden Mischung der Schülerschaft einen erheblichen Beitrag leisten.

Der Elternverband spricht sich daher für die Möglichkeit der Einführung von Schuleinzugsbezirken insbesondere Grundschuleinzugbezirken aus. Um diesen zu umgehen ist jedoch eine deutlich stärkere Förderung von Schulen in sozial benachteiligten Stadteilen notwendig.

3) Zu §49 (Arbeits- und Sozialverhalten):

Die Möglichkeit der Bewertung zum Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler stellt auf der einen Seite eine Notwendigkeit in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite erschwert es die Aufgabe der Lehrer die Schüler objektiv zu beurteilen. Hierdurch nimmt nach unserer Meinung nach die Soziallastigkeit der Bewertungen, nicht nur im Arbeits- und Sozialverhalten, zu. Eine inhaltlich differenzierte Aussage über das Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler unabhängig von Ihrer sozialen Herkunft wird zunehmend schwierig. Grundsätzlich wären Bewertungen zu Sozial- und Arbeitsverhalten der Schüler in Grundschulen, wie es bereits in den ersten Schuljahren praktiziert wird, wünschenswert. In den weiterführenden Schulen, insbesondere auf Abschlusszeugnissen halten wir dies aufgrund der starken Beeinflussung der Bewertungen durch den Sozialstatus der Familien und der starken Bedeutung dieser Bewertungen für die berufliche Zukunft der Kinder für höchst bedenklich. Der Elternverband befürwortet grundsätzlich den Entwurf. Eine differenzierte Handhabe der Beurteilungspraxis nach Schulformen und Klassen halten wir jedoch für notwendig.

4) Zu §66 (Zusammensetzung der Schulkonferenz):

Die Wiedereinführung der Drittelparität stärkt die Eltern mit Migrationshintergrund und würde deren Zusammenarbeit mit den Schulen stärken.

Aus der Sicht der Elternschaft und im Hinblick auf die Stärkung der Elternmitwirkung und des Elternwillen im Bildungssystem befürworten wir die Änderung des §66.

Unser Schlussplädoyer:

Nach § 1 Schulgesetz Nordrhein-Westfalen (SchulG-BASS1-1) hat jeder junge Mensch ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung. Neben Schülerinnen und Schülern mit der Familiensprache Deutsch gibt es Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte aus rund 150 Nationalitäten, die mit unterschiedlichem Gewicht im Land vertreten sind. Von den rund 2,6 Millionen Schülern in NRW haben ca. 30% eine Zuwanderungsgeschichte. Rund die Hälfte der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte nichtdeutscher Nationalität hat Ihren Ursprung aus der Türkei. Die sich verändernde demographischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland erfordert ein grundlegendes Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik. Die Schule hat den gesetzlichen Auftrag die Kinder dort abzuholen wo sie sind. Um diesem Bildungsauftrag gerecht zu werden ist die Förderung der natürlich mitgebrachten Ressourcen, wie die Mehrsprachigkeit, die Reduzierung der sozialen Selektionspraxis an  Schulen, die Stärkung der Eltern sind  Erfolgs-orientierte Förderansätze notwendig. Die Achtung und Schätzung der mitgebrachten Kultur und der Sprache von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte gibt diesen Kindern ein Gefühl der Zugehörigkeit und ist für deren Persönlichkeitsentwicklung von besonderer Bedeutung. Die große Mehrheit der Eltern mit Migrationshintergrund ist ohne Zweifel am Bildungserfolg ihrer Kinder interessiert. Die geplanten Änderungen der §§ 11,46,49,66 und 84 des Schulgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen haben zum einen das Ziel die Elternmitwirkung und somit den Elternwillen zu stärken und die soziale Benachteiligung durch das hiesige Schulsystem, zumindest in Ansätzen zu reduzieren. Auch die bereits beschlossene Änderung des Schulgesetzes hinsichtlich der Einführung von Gemeinschaftsschulen wird im Hinblick auf längeres gemeinsames Lernens und Lebens findet unsere Zustimmung. Deshalb unterstützen wir die geplanten Vorhaben der Landesregierung in allen genannten Punkten, bitten jedoch gegebenenfalls um die notwendigen Korrekturen, die sicherlich an bestimmten Stellen notwendig wären.


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