Wann ist man deutsch?

Wann ist man deutsch?
von Joe Dramiga, 14. September 2010

ResearchBlogging.org

Die Soziologen Michael Mäs und Kurt Mühler der Uni Leipzig haben sich gefragt bei welchen Merkmalen eine Person als „deutsch“ beschrieben wird. Zur Beantwortung dieser Frage überprüften sie zwei Hypothesen, die Assimilationshypothese und die Abstammungshypothese. Die Assimilationshypothese besagt, dass die Anpassung an zentrale kulturelle Merkmale von Bedeutung ist. Dies sind vor allem, so wird vermutet, die sichere Beherrschung der deutschen Sprache, die Zugehörigkeit zum Christentum, die Wohndauer in Deutschland und ein deutscher Ehepartner. Die Abstammungshypothese dagegen behauptet, dass man „deutsch sein“ nicht lernen kann: „deutsch“ ist man nur, wenn die Eltern Deutsche sind. Die Wissenschaftler befragten dazu 579 Menschen aus Sachsen. Die Daten wurden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes “Ursachen für die Identifikation von Bürgern mit ihrer Region und Wirkungen auf ihr individuelles Handeln“ erhoben.

Merkmale die das „deutsch sein“ bestimmen

Dabei wurden den Befragten Situationsbeschreibungen von Menschen vorgegeben, die aus Kombinationen bestimmter kultureller und rechtlicher Merkmale bestehen, sogenannte Vignetten.

Es gab folgende Vignettenmerkmale:

Geburtsland: Deutschland, Frankreich, Türkei
Staatsangehörigkeit der Eltern: deutsch, französisch, türkisch
Wohndauer in Deutschland: seit 2 Jahren, seit 8 Jahren, seit 20 Jahren, seit Geburt
Beherrschung der deutschen Sprache: fließend, gebrochen, kaum
Religionszugehörigkeit: ohne Religion, Christ, Moslem
Nationalität des Ehepartners: deutsch, französisch, türkisch

Eine Vignette (Situationsbeschreibung für eine Person) würde z.B. lauten:

Eine Person A ist in der Türkei geboren. Die Staatsangehörigkeit der Eltern von A ist türkisch. A lebt seit 8 Jahren in Deutschland. A spricht gebrochen deutsch und ist ohne Religion. A hat einen deutschen Ehepartner.

Die Befragten wurden dann gebeten, die beschriebene Person nach der folgenden 7-stufigen Skala (-3 bis +3) nach ihrem „deutsch sein“ zu beurteilen:

-3: auf keinen Fall deutsch
0: unentschlossen
+3: auf jeden Fall deutsch

Jedem Befragten wurden 15 Vignetten zur Bewertung vorgelegt. Die 15 Vignetten wurden zufällig zusammengestellt und zufällig auf die Befragten verteilt. Der Vignettenfragebogen wurde schriftlich ausgefüllt.

Die Verteilung der Bewertungen

Knapp ein Drittel der Urteile (29,4 Prozent) wies den höchstmöglichen negativen Wert -3 (auf keinen Fall deutsch) auf. 6,7 Prozent der Urteile wiesen den höchstmöglichen Wert +3 (auf jeden Fall deutsch) auf. 19,3 Prozent der Urteile wiesen den Wert 0 (unentschlossen) auf.

Diese Ergebnisse beziehen sich nur auf die Urteile (Die Prozentwerte wurden gerundet). Die 579 Befragten waren zufällig ausgewählt. Es ist denkbar, dass die Befragten ihr Urteil darüber, wann jemand als „deutsch“ zu bezeichnen ist, völlig unterschiedlich bilden. Die Befragten haben jeweils 15 Vignetten beurteilt. Damit lassen sich multivariate Analysen für jeden einzelnen Befragten durchführen. Es wurde eine befragtenspezifische Regressionsanalyse durchgeführt, um zu schauen, ob die Befragten ihre Urteile unterschiedlich bilden. Die Auswertung dieser befragtenspezifischen Regressionsanalyse hat gezeigt, dass sich die Befragten sehr stark darin unterscheiden, wie sie das Urteil, ob jemand deutsch ist, bilden. Die Einbeziehung demografischer Variablen der Befragten wie Alter, Familienstand, Geschlecht, Schulbildung und Einkommen zeigten kaum Wirkungen auf die Urteile.

Deutsch ist, wer deutsche Eltern hat

Die Abstammungshypothese wurde klar bestätigt. Wer deutsche Eltern hat, wird als „deutsch“ bezeichnet. Dieses Merkmal hatte die stärkste Wirkung. Die spezielle Hypothese zur kulturellen Ausschließung besagt, dass z.B. ein türkisch-stämmiger Moslem trotz hoher Assimilationsbemühungen nicht als „deutsch“ bezeichnet wird. Aufgrund dieser Hypothese würde man voraussagen, dass sich der Effekt von „Moslem“ nicht ändert, wenn man in die Analyse Merkmale einbezieht, die, so vermutet man, Assimilationsbemühungen messen. Diese sind insbesondere „deutscher Ehepartner“ und „fließende Beherrschung der deutschen Sprache“.
Diese Hypothese wurde auf folgende Weise getestet. Es wurden die Korrelationen zwischen „Moslem“ und den Urteilen zum „deutsch sein“ bei zwei Gruppen von Vignetten miteinander verglichen: Vignetten, in denen die Person hohe Assimilationsbemühungen zeigt (also fließend Deutsch spricht und einen deutschen Ehepartner hat) und in denen die Person niedrige Assimilationsbemühungen zeigt (also nicht fließend Deutsch spricht und keinen deutschen Ehepartner hat). Für jede dieser Extremgruppen wurden die Korrelationen zwischen „Moslem“ und Beurteilungsskala berechnet. Trotz Anpassungsbemühungen nehmen die Menschen eine Person nicht als „mehr deutsch“ war.

Bei den Vignetten mit einer Person mit niedrigen Assimilationsbemühungen betrug die Korrelation zwischen „Moslem“ und dem Urteil -0.03. Bei den Vignetten mit einer Person mit hohen Assimilationsbemühungen korrelierten die genannten Variablen mit – 0.22 [1].

Dies bestätigt die Hypothese zur kulturellen Ausschließung die besagt, dass nämlich Assimilationsbemühungen nicht dazu beitragen, dass man eher als deutsch bezeichnet wird. Im Gegenteil: Bei hohen Assimilationsbemühungen wird man eher nicht als deutsch eingestuft.

Die Forscher erklären das mit dem Dissonanzeffekt und den Terroranschlägen in der jüngeren Vergangenheit.

Der Dissonanzeffekt

Der Dissonanzeffekt ist ein Phänomen, das in der Sozialpsychologie durch Festingers Dissonanztheorie beschrieben und erklärt wird. 1957 veröffentlichte Leon Festinger ein Buch [2], in dem er seine Theorie der kognitiven Dissonanz und ihre Bedeutung für die Meinungsbildung und das Verhalten vorstellte.

Von zentraler Bedeutung ist dabei der psychologische Begriff der Kognition. In der Psychologie bezeichnet Kognition die mentalen Prozesse eines Individuums wie Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche, Absichten. Kognitionen können auch als Informationsverarbeitungsprozesse verstanden werden, in dem Neues gelernt und Wissen verarbeitet wird, siehe Denken und Problemlösen. Kognitionen können Emotionen (Gefühle) beeinflussen und/oder durch sie beeinflusst werden.

Kognitionen können sich relevant zueinander verhalten. Bei einer relevanten Relation unterscheidet man wiederum zwischen konsonanter und dissonanter Relation. Passen zwei Kognitionen widerspruchslos zusammen oder folgt eine Kognition aus der anderen, dann verhalten sich diese Kognitionen zueinander konsonant.

Kognition A: Ich mag Soul-Musik. Kognition B: Ich höre mir die CD von Erykah Badu an.

Passen zwei Kognitionen hingegen nicht zusammen, weil sie einander widersprechen oder sogar das Gegenteil vom jeweils anderen bedeuten, dann verhalten sich diese Kognitionen zueinander dissonant und eine solche Relation hat kognitive Dissonanz zur Folge.

Kognition A: Ich esse jeden Tag sieben Schnitzel. Kognition B: Ich will abnehmen.

Festingers Theorie geht von der Annahme aus, dass kognitive Dissonanz zu unangenehmen psychischen Spannungen führt, die Menschen dazu motiviert, diese Spannung zu beseitigen oder wenigstens zu reduzieren. Je größer die Dissonanz (welche vom subjektiven Empfinden abhängig ist), desto größer der Druck bzw. die Motivation, diesen Zustand zu beseitigen. Festinger meint dabei nicht logische Unvereinbarkeiten, sondern psychologische d.h. was für eine Person psychologisch unvereinbar ist, kann für andere vereinbar sein.

Welche Mittel benutzen Menschen um eine kognitive Dissonanz zu reduzieren?

Menschen reduzieren kognitive Dissonanz z.B. durch Veränderungen ihres kognitiven Systems.

a) Addition neuer konsonanter Kognitionen
b) Subtraktion von dissonanten Kognitionen (Ignorieren, Vergessen, Verdrängen)
c) Substitution von Kognitionen: Subtraktion dissonanter bei gleichzeitiger Addition konsonanter Kognitionen → kognitive Verzerrung erforderlich
Kognition kann dann umso schwerer zur Dissonanzreduktion verwendet werden, je größer die Anzahl konsonanter Beziehungen zu anderen Kognitionen ist.

Nachtrag 16.9.2010

Es ist Zeit für ein wenig Edutainment. In den Kommentaren wurde ja weiter eifrig über die Definition von „deutsch“ diskutiert. Hier der Textauszug zu dem Lied „Fremd im eigenen Land“. Ich denke, er macht recht deutlich wohin diese Studie zielt.

…Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf

dies bedingt, dass ich mir oft die Haare rauf

Jetzt mal ohne Spass: Ärger hab‘ ich zu Hauf

obwohl ich langsam Auto fahre und niemals sauf‘

All das Gerede von europäischem Zusammenschluss

fahr‘ ich zur Grenze mit dem Zug oder einem Bus

frag‘ ich mich warum ich der Einzige bin, der sich ausweisen muss,

Identität beweisen muss!

Ist es so ungewöhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht

und nicht so blass ist im Gesicht?

Das Problem sind die Ideen im System:

ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen,

blaue Augen, blondes Haar keine Gefahr,

gab’s da nicht ’ne Zeit wo’s schon mal so war?!

„Gehst du mal später zurück in deine Heimat?“

‚Wohin? nach Heidelberg? wo ich ein Heim hab?‘

„Nein du weisst, was ich mein…“

Komm lass es sein, ich kenn diese Fragen seit dem ich klein

bin in diesem Land vor zwei Jahrzehnten geborn‘

doch frag‘ ich mich manchmal, was hab‘ ich hier verloren!

Ignorantes Geschwätz, ohne End

dumme Sprüche, die man bereits alle kennt

„Eh, bist du Amerikaner oder kommste aus Afrika?“

Noch ein Kommentar über mein Haar, was ist daran so sonderbar?

„Ach du bist Deutscher, komm erzähl kein Scheiss!“

Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis:

Gestatten sie mein Name ist Frederik Hahn

ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man’s mir nicht an,

ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant,

sondern deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land,…
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