Referendum in der Türkei

14.09.2010

Referendum in der Türkei
Chance vertan

Von Gastkommentar. Von Sevim Dagdelen

Das Referendum über die Verfassungsreform in der Türkei ist in zweierlei Hinsicht eine vertane Chance. Das angegebene Ziel der Regierungspartei AKP, durch die Verfassungsreform mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erreichen zu wollen, wird nicht erreicht. 30 Jahre nach dem letzten Militärputsch in der Türkei wird die damals von der Junta dem Land und der Bevölkerung aufgezwungene Verfassung im wesentlichen beibehalten. Zwar werden die Rechte von Kindern, Frauen, Menschen mit Behinderungen und Senioren gestärkt, doch die von den Militärs damals verankerten antidemokratischen Institutionen wie der Nationale Sicherheitsrat, der Oberste Hochschulverwaltungsrat oder der Fernseh- und Rundfunkrat bleiben unangetastet. Die uneingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen werden mit dem Referendum nicht sichergestellt. Und die dringend notwendigen kulturellen Rechte von Minderheiten werden ebenfalls nicht verfassungsrechtlich verankert. Große Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität der Justiz bleiben weiterhin, und mit den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sorgen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisierung der Türkei nicht von der Hand zu weisen.

Neben den größten Oppositionsparteien, der republikanischen CHP und der nationalistischen Rechten MHP, die zur Ablehnung des Referendums aufriefen, hatte sich ein breites linkes Bündnis aus Parteien und Organisationen, Berufsverbänden und Gewerkschaften gebildet, die eine gemeinsame Nein-Kampagne führten. Mit 42 zu 58 Prozent unterliegen die – unterschiedlich motivierten – Gegner der Verfassungsreform. Daß sie es nicht geschafft haben, den Osten des Landes für ein Nein zu gewinnen, offenbart die Schwäche der Linken in der Türkei. Mit einer zwar niedrigen Wahlbeteiligung, aber im Durchschnitt fast 90prozentigen Zustimmung in den vor allem als kurdische Provinzen bekannten Gebieten hat sich die Boykottkampagne der kurdischen Partei BDP negativ auf das Nein-Lager und somit das Endergebnis ausgewirkt. Ein Blick auf die Wahlkarte ergibt das Bild, daß der Osten für die Verfassungsreform gestimmt hat, obwohl der Boykott dort teilweise sogar befolgt wurde. Der BDP-Boykott wurde unterschiedlich begründet. Unter anderem hieß es, man wolle sich nicht in einem Lager mit der rechten MHP befinden. Bleibt die Frage, wem diese Haltung mehr genutzt hat?
Zur Erinnerung: Daß nationalistische oder rechte Parteien in Frankreich zum Nein-Lager beim Referendum über die EU-Verfassung 2005 gehörten, tat der politischen Linken in Frankreich, die ebenfalls zum Nein aufriefen, keinen Abbruch. Und dem Ergebnis, der Ablehnung der EU-Verfassung, schon gar nicht.

Die Autorin ist stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und für die Linksfraktion Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages
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