Falsch geboren, schon verloren?

Prof. Dr. Heike Solga, Direktorin der Abteilung „Ausbildung und Arbeitsmarkt“ des WZB
24.6.20009; Reckahner Bildungsgespräche

Falsch geboren, schon verloren? Über die Schwäche des (deutschen) Bildungssystems, Gerechtigkeit zu erzeugen

In Berlin wird derzeit heiß über die zukünftige Lotterie für 30 Prozent der Plätze auf Gymnasien diskutiert, wenn die Nachfrage nach Plätzen höher ist als das Angebot. Schulleiter/innen, Elternverbände und Bildungsexperten sind empört und halten dies für ungerecht und völlig unpädagogisch. Die Auswahl nach Leistung hingegen herrsche sowohl im Bildungssystem als auch in der gesamten Gesellschaft – wie der Erziehungswissenschaftler und FU-Präsident Dieter Lenzen in der Berliner Morgenpost vom 27.5.2009 erklärt – und gilt als gerecht.

„Fortuna übernähme stattdessen die Regie“ – so André Schindler, Vorsitzender des Landeselternausschusses in der Morgenpost. Und der Vorsitzende des Verbandes der Oberstudiendirektoren Ralf Treptow empört sich, dass das Losverfahren dazu führen wird, „dass viele ungeeignete Kinder am Gymnasium aufgenommen werden müssen und die Kapazität für geeignete Kinder dann fehlen würde.“

Ich kann dieser Empörung nicht zustimmen – mehr noch, meines Erachten kommen in dieser Empörung die ganzen Ungerechtigkeitsprobleme unseres Bildungssystems zum Ausdruck –sie trägt zudem zur Verklärung und damit zur Aufrechterhaltung dieser Gerechtigkeitsprobleme bei. Wieso? Lassen Sie mich dies als Impuls für die Diskussion thesenartig beantworten.

These 1: Unser derzeitiges Bildungssystem – angefangen von der Förderschule bis zum Gymnasium, vom Übergangssystem bis zur Weiterbildung – basiert bereits auf einer Lotterie.

Im deutschen Bildungssystem entscheidet wie in kaum einem anderen entwickelten Land der Welt die soziale Herkunft darüber, welche Bildungschancen Kinder in der Schule sowie im weiteren Lebensverlauf haben. Wir haben also bereits eine „Lotterie“ der Bildungschancen – nämlich bei der Geburt. Denn es liegt nicht in der Entscheidung der Kinder, welche Eltern sie haben, sondern in der Entscheidung der Natur. Diese Herkunfts-Lotterie wäre an sich in Bezug auf Bildung wenig problematisch, wenn im deutschen Bildungssystem die soziale Herkunft nicht so massiv für den Bildungserfolg von Kindern relevant werden würde, sondern unser Schulsystem ungleiche Startchancen und ungleiche familiale Unterstützungsstrukturen kompensieren würde. Tut es aber nicht. Ich habe an anderen Stellen ausführlich darüber geschrieben, warum nicht, und kann dies hier nicht im Einzelnen ausführen (siehe Solga 2008; Solga/Dombrowski 2009). Lassen sie mich als Ursachen für die hohe Relevanz der sozialen Herkunft im deutschen Bildungssystem daher stichpunktartig nur Einige nennen:

– Im deutschen Schulsystem mit seiner Halbtagsschule haben das familiale Umfeld und die kulturellen wie materiellen Ressourcen der Familie einen deutlich größeren Einfluss auf den Lernerfolg von Kindern als in Ländern mit Ganztagsschulen. Unterschiede im kulturellen Kapital der Familien wirken sich so durch den hohen Anteil verfügbarer Familienzeit und die unterschiedliche Nutzung dieser Zeit in den Familien besonders stark aus. Die Anfertigung von Hausaufgaben und das Lernen für Arbeiten sind den Familien überlassen; was am Nachmittag in der Freizeit unternommen wird, wird vom familialen Umfeld beeinflusst. Eltern unterschiedlicher Schichten haben jedoch in unterschiedlicher Weise Zeit, Geld oder die notwendigen Kompetenzen, um ihre Kinder in der nötigen Weise zu unterstützen.

– Lernen und Kompetenzerwerb werden auch durch Anstrengung und Motivation beeinflusst. Wichtig für die Lernmotivation sind die Erwartungen, die sich an den späteren Bildungs- und Berufsweg knüpfen. Neben der Familie können – wie vielfältige Studien zeigen – auch Menschen, denen Kinder und Jugendliche im Schulalltag begegnen, eine wichtige Motivationsquelle sein. Das können Lehrer/innen, aber auch Mitschüler/innen und deren Eltern sein. Den Förder- und Hauptschüler/innen wird in Deutschland diese Lerngelegenheit oft vorenthalten. Das mehrgliedrige Schulsystem verteilt schon sehr früh eine ganze Schülergeneration auf unterschiedliche Schultypen. Damit einher geht eine soziale Segregation. Die Förder- und Hauptschüler/innen treffen daher im Schulalltag kaum auf Mitschüler/innen aus höheren sozialen Schichten und mit höheren Bildungsambitionen und Erwartungen. Damit fehlen ihnen positive Rollenmodelle. Der Bildungsforscher Jürgen Baumert hat diesen Sachverhalt als sozialdifferenzielle Lernmilieus bezeichnet. Der ernorme Einfluss dieser ungleichen Lernmilieus zeigt sich u. a. darin, dass in Deutschland (nach Bulgarien) die Unterschiede im Lernerfolg zwischen Schulen am stärksten sind.  Diese Leistungsdifferenzen zwischen Schulen werden zudem in Deutschland – wie in kaum einem anderen Land – vor allem durch Unterschiede in der sozial ungleichen Zusammensetzung von Schulen verursacht. Dies ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass unser Bildungssystem soziale Unterschiede verstärkt, statt sie zu verringern.

– Die IGLU-Studien belegen große Schichtunterschiede in der Wahrnehmung des Leistungspotenzials von Kindern durch deren Eltern und Lehrer/innen. Während Eltern der oberen Dienstklasse ihre Kinder bereits ab einem kritischen Wert von 498 Punkten in der Lesekompetenz für „gymnasialfähig“ halten, liegt der kritische Wert bei Eltern in un- /angelernten Berufen bei 606 Punkten – eine Differenz von 108 Punkten! Ähnliches findet sich auch – wenn auch in etwas geringerem Maße – bei den Gymnasialempfehlung von Grundschullehrer/innen wieder. Soziale Unterschiede in den Bildungsentscheidungen von Eltern – bei gleichen Leistungen des Kindes – sind die Folge. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass – bei gleichen Lesekompetenzen und kognitiven Grundfähigkeiten des Kindes – Eltern aus der oberen Dienstklasse den Besuch einen Gymnasiums für ihr Kind präferieren, 9-mal höher als für un-/angelernte Eltern und fast 6-mal höher als für Facharbeitereltern. Diese herkunftsabhängigen Bildungsentscheidungen sind zudem mit ungleichen weiteren Lerngelegenheiten verbunden, da sie zu dem Besuch unterschiedlicher Schultypen nach Herkunft führen.

– Im deutschen Bildungssystem werden sehr früh Entscheidungen über den weiteren Bildungsverlauf von Kindern getroffen. Dieser frühe Zeitpunkt erhöht den Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg von Kindern. Wieso? Bei einem frühen Zeitpunkt steht Kindern aus unteren Schichten nur wenig Zeit zur Verfügung, ihr „Leistungspotenzial“ in der Schule sowie – über das gemeinsame Lernen in sozial gemischten Klassen – eigene Bildungsaspirationen zu entwickeln, die sich möglicherweise von denen der Eltern unterscheiden können. Ein gemeinsames Lernen bis Klasse 6 schafft hier kaum Abhilfe. Zum einen, weil doch ein Teil der guten Schüler/innen bereits nach Klasse 4 auf ein Gymnasium wechselt, und zum anderen, weil auch hier der Schulalltag letztlich durch die Idee einer „richtigen“ Sortierung der Schüler/innen auf unterschiedliche Schultypen geprägt ist – also am Selektionsprinzip ausgerichtet ist. Ferner sind die Schüler/innen auch dann noch relativ jung (ca. 12 Jahre) und können kaum eigenständige Bildungsentscheidungen entwickeln und gegebenenfalls auch gegen ihre Eltern durchsetzen.

In der Summe heißt das: Je mehr und je früher ein Bildungssystem Kinder auf unterschiedliche Schultypen sortiert und „Entscheidungen“ über den weiteren Bildungsverlauf von Kindern abverlangt, desto stärker beeinflusst die sozialer Herkunft die Bildungschancen von Kindern.

Ich komme damit zu meiner 2. These, wieso die eingangs zitierte Empörung über ein Losverfahren zur Verklärung und damit zur Aufrechterhaltung der Gerechtigkeitsprobleme des deutschen Bildungssystems beiträgt: die Exklusivität des Gymnasiums als Monopolisierungsstrategie.

Die halbherzigen Schulreformen, die derzeit stattfinden, bzw. die Blockaden des Aufbaus einer Schule des gemeinsamen Lernens bis Klasse 9 oder 10 – gerade mit Rücksicht auf die sich jetzt über die Lotterie empörenden Eltern als Wähler/innen – sind selbst die Ursache für die weiterhin vorhandene Verknappung des Zugangs zu höheren Bildungseinrichtungen und damit des Losverfahrens. Kapazitätsverknappung ist mit der Fortschreibung der Separierung von Gymnasium und Sekundarschule damit doch gewünscht – man sollte noch Aufrechterhaltung der Separierung von Förderschulen nennen, die mit der vielerorts postulierten Wende hin zum zweigliedrigen System weiterhin als „gegeben“ und außerhalb des Schulsystems befindlich behandelt werden (so auch in Berlin). Hätten wir nur einen Schultyp und diesen mit einer gymnasialen Oberstufe, bei dem am Ende von Klasse 10 jede selbst entschieden kann, wer weiter bis zum Abitur auf die Schule geht, wären Kapazitätsanpassungen leicht möglich – damit wäre jedoch auch die Exklusivität des Gymnasiums bzw. der höheren Bildungseinrichtungen beendet. Dies ist allerdings ja gerade mit dem Erhalt des Gymnasiums nicht gewollt.

Vielmehr wird – so meine 3. These – der Erhalt des Gymnasiums durch „Begabungsunterschiede“ begründet und damit weiterhin der Einfluss von sozialer Herkunft durch „Begabungsunterschiede“ kaschiert. Warum, so muss man fragen, müssten denn nun gerade durch ein Losverfahren „viele ungeeignete Kinder am Gymnasium aufgenommen werden“? Erstens ist die Gymnasialempfehlung von Grundschullehrer/innen notenbasiert – und hier haben Kinder aus oberen Schichten zum einen höhere Chancen, durch die Unterstützung der Eltern auch höhere Schulleistungen zu erzielen, und zum anderen höhere Chancen, von Lehrer/ innen bei „grenzwertigen“ Noten dennoch eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder aus unteren Schichten – wie IGLU zeigt. Zweitens sind es eher Eltern aus den oberen Schichten, die auch heute schon von einer Nicht-Gymnasialempfehlung abweichen und ihr Kinde dennoch auf das Gymnasium schicken (auch dies zeigt IGLU) – damit gehen „nicht geeignete“ Kinder also auch heute schon aufs Gymnasium, allerdings nur dann, wenn sie bei der Geburt das Glück gehabt haben, von den für das deutsche Schulsystem „richtigen“ Eltern geboren worden zu sein. Und schließlich werden sich eher Eltern ohne akademischen Abschluss durch eine Lotterie abschrecken lassen und ihre Kinder dann halt doch „auf den sicheren Platz an der Sekundarschule“ und damit in eine Lehrausbildung schicken. Ist der Verlust dieser „geeigneten“ Kinder gemeint, wenn Herr Treptow sich empört. Wohl eher nicht, denn dann würde er nicht „harte Zugangsregeln“ fordern, bei denen „die beiden Zeugnisse der fünften Klasse und in doppelter Wertung das Halbjahreszeugnis der sechsten Klasse (entscheidend) sein sollten“ – Zeugnisse zu einem Zeitpunkt, bei dem wir wissen, dass soziale Ungleichheit in den Startchancen meist noch nicht kompensiert worden ist.

Ich wollte mit meinem Diskussionsimpuls nicht anregen, jetzt über das Losverfahren in Berlin zu diskutieren. Vielmehr habe ich es nur als Aufhänger benutzt, um zu verdeutlichen, dass das vielerorts als gerecht empfundene Leistungsprinzip in Deutschland auf einer Herkunftslotterie basiert, da das deutschen Schulsystem Unterschiede in der sozialen Herkunft nicht ausgleicht, sondern in einen sozial ungleichen Bildungserfolg transferiert. Ein Leistungsprinzip, das auf sozial ungleichen Bildungschancen basiert, ist – so muss man Dieter Lenzen deutlich widersprechen – nicht gerecht, und die Anwendung des Leistungsprinzips trägt unter diesen Bedingungen daher wissentlich zur Reproduktion von Chancenungleichheit bei. Geschwächt wird damit auch die Legitimation ungleicher Gratifikationen von „Leistungen“ auf dem Arbeitsmarkt (wie Zugang zu höheren beruflichen Positionen, Einkommen, Autonomie etc.) – eine Verteilungsungleichheit, die ganz wesentlich davon abhängt, das Chancengleichheit beim Zugang zu höherer Bildung besteht (vgl. Solga 2009).

Die Gerechtigkeitsprobleme des deutschen Bildungssystems haben damit strukturelle Ursachen – wie die Ausführungen zu meiner ersten These deutlich gemacht haben –, aber auch ideologische Ursachen – da weiterhin der Rekurs auf „Begabungs-“ und „Leistungsunterschiede“ als Verschleierung der Monopolisierungsstrategien der oberen Schichten fungiert.

Ja, so muss man Alke Wierth zustimmen, die in der TAZ vom 19.6.2009 titelte „Nur eine Chance beim Klassenlotto“. Sie verstand dies allerdings in Kritik am Losverfahren in Berlin – meine Zustimmung zu diesem Titel rührt hingegen daher, dass er sehr trefflich den Zustand des derzeitigen deutschen Bildungssystems beschreibt: Denn das deutsche Bildungssystem gibt Kindern nur eine Chance für ihren Bildungserfolg – und das ist die Geburt und damit die soziale Klassenzugehörigkeit ihrer Eltern – oder gemäß dem Titel dieses Panels „Falsch geboren, schon verloren [Punkt und nicht Fragezeichen]“.

Solga, Heike (2008). Wie das deutsche Schulsystem Bildungsungleichheiten verursacht.
WZBrief Bildung 01/2008. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
(online: .

Solga, Heike (2009). Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen.
In: Heike Solga/Justin Powell/Peter A. Berger (Hrsg.), Soziale Ungleichheit. Klassische
Texte der Sozialstrukturanalyse. Frankfurt a.M.: Campus, S. 63-72.

Solga, Heike/Rosine Dombrowski (2009). Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer
Bildung – Stand der Forschung und Forschungsbedarf. Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 171. Düsseldorf: HBS (online:http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf).


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