Erdogan kann allein regieren - für eine neuen Verfassung aber braucht er Verbündete. (Foto: REUTERS

EU mahnt Reformen in Türkei an

Ministerpräsident Erdogan kann auch in den kommenden vier Jahren die Türkei mit einer klaren Mehrheit im Parlament regieren. Die EU mahnt bereits Reformen an, dazu gehört auch eine neue Verfassung. Um die im Alleingang durchsetzen zu können, fehlt der islamisch-konservativen AKP jedoch eine Handvoll Sitze. Trotz des historischen Wahlsiegs braucht Erdogan nun die Verlierer.

Erdogan kann allein regieren - für eine neuen Verfassung aber braucht er Verbündete. (Foto: REUTERS
Erdogan kann allein regieren – für eine neuen Verfassung aber braucht er Verbündete. (Foto: REUTERS

Die religiös-konservative AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Parlamentswahl in der Türkei gewonnen. Nach Auszählung aller Stimmen lag die AKP mit 49,9 Prozent klar vorne. Sie erhalte damit 326 Mandate in dem 550 Sitze zählenden Parlament, berichteten türkische Fernsehsender. Bei der Wahl 2007 hatte die AKP 46,5 Prozent erreicht.

Nach dem Wahlsieg erwartet die EU von Erdogan weitere Reformen. Dazu gehöre die Arbeit an einer neuen Verfassung, teilten der ständige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit.

„Die (Wahl-)Ergebnisse ebnen den Weg zur weiteren Stärkung der demokratischen Institutionen der Türkei und zur fortgesetzten Modernisierung des Landes – im Einklang mit europäischen Werten und Standards“, so die beiden EU-Spitzen. Van Rompuy und Barroso bauen auch auf mehr Vertrauen zwischen dem Kandidatenland Türkei und den 27 Mitgliedsländern. Das könne mehr Schwung in die Beitrittsverhandlungen mit dem Anwärter bringen. Die Gespräche kommen seit längerem wegen diverser Blockaden nicht richtig von der Stelle.

Bei der Wahl legte die sozialdemokratische CHP als größte Oppositionspartei auf 25,9 Prozent zu und wird 135 Abgeordnete stellen. Die rechtsnationalistische MHP kam auf 13 Prozent, was im Parlament 53 Sitzen entsprechen wird. Die Kurdenpartei BDP wird mit 36 Abgeordneten vertreten sein. Sie scheiterte mit rund 6 Prozent zwar an der Zehnprozenthürde, hatte ihre Politiker aber als unabhängige Kandidaten ins Rennen geschickt, um diese Hürde zu umgehen.
Zweidrittelmehrheit verfehlt

Erdogan kann nun auch die kommenden vier Jahre das Land mit einer klaren Mehrheit im Parlament regieren. Er hatte allerdings auf eine Zweidrittelmehrheit für seine AKP gehofft. Mit einer Mehrheit von 367 Abgeordneten hätte er dem Land praktisch im Alleingang eine neue Verfassung geben können. Eine Mehrheit von 330 Stimmen reicht nur, wenn eine neue Verfassung in einem dann nötigen zweiten Schritt per Referendum bestätigt wird. Einen größeren Erfolg der AKP verhinderte unter anderem das starke Abschneiden pro-kurdischer Kandidaten in den Kurden-Gebieten.

Der Auftrag der Wähler sei es, eine neue Verfassung im Konsens zu erarbeiten, sagte Erdogan in seiner Siegesrede am späten Sonntagabend vor jubelnden Anhängern in Ankara. „Wir werden mit den Oppositionsparteien die neue Verfassung diskutieren.“ Erdogan hat angekündigt, die Verfassung solle auf demokratischen und pluralistischen Prinzipien beruhen und das Land der Europäischen Union näher bringen.
„Jeder wird Bürger erster Klasse sein“

„Die Botschaft ist, dass wir dies zusammen mit den anderen Kräften machen sollen“, sagte Erdogan. „Wir werden auch die Parteien anhören, die nicht im Parlament vertreten sind. Wir werden die umfangreichsten Verhandlungen führen“, versprach der Regierungschef. „Jeder wird Bürger erster Klasse sein.“

Der 57-jährige Erdogan ist seit 2003 Regierungschef und der beliebteste Politiker der Türkei. In dieser Zeit hat das Land ein starkes Wirtschaftswachstum vorgelegt, mit einem Anstieg von 8,9 Prozent im vergangenen Jahr. Unter Erdogans Führung bemüht sich das Land auch um eine Mitgliedschaft in der EU, war dabei aber kaum noch vorangekommen. Investoren sehen in der AKP die Partei, die am deutlichsten einen marktwirtschaftlichen Kurs fährt. Kritiker bemängeln an Erdogan einen autoritären Führungsstil.

Erdogans politische Gegner sehen einen möglichen weiteren Machtzuwachs der AKP mit Sorge. Sie erwarten, dass die AKP die Arbeit an einer neuen Verfassung auch zur Zementierung ihrer Macht nutzen wird. In Deutschland kritisierte die CSU die wachsende Distanz Ankaras zu Europa. So zeigte sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann auf Grund der Erfolge Erdogans und der Ultranationalistischen MHP besorgt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Erdogan dagegen. „Das Ergebnis reflektiert den Erfolg Ihrer in den letzten Jahren konsequent vorangetriebenen Modernisierungspolitik“, schrieb die CDU-Politikerin in ihrem Glückwunschschreiben. Andere Politiker äußerten sich auf Grund der verfehlten Zweidrittelmehrheit erleichtert.

Grünen-Chefin Claudia Roth zeigte sich erfreut über den Wahlausgang. Roth sagte MDR Info, Erdogan habe einen großen Sieg errungen, der aber auch eine Niederlage berge. Das selbstgesteckte Ziel der Zweidrittelmehrheit habe er deutlich verfehlt. Das Wahlergebnis sei darum vor allem für Erdogans Gegner „eine Beruhigung, die Angst hatten vor einem Größenwahn, den Erdogan doch in der letzten Zeit häufiger gezeigt hat“.

Der Türkei-Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion, Dietmar Nietan, erklärte, Erdogan müsse in seiner dritten Amtszeit beweisen, dass er weiterhin willens und in der Lage ist, die Türkei entscheidend in Richtung demokratischer Reformen und damit in Richtung Europa zu führen.

Für die kommenden Jahre hat Erdogan zumindest große Projekte angekündigt. In Istanbul will er zwei neue, erdbebensichere Vorstädte bauen und einen Kanal zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer. Dieser soll den Bosporus entlasten. Zudem sollen praktisch zinsfreie Kredite Geschäftsleuten Investitionen und Familien den Kauf von Häusern möglich machen. Bis 2023 soll sich die Wirtschaftskraft der Türkei verdreifachen, so das erklärte Ziel der AKP.

Mehr als 52 Millionen registrierte Wähler waren zur Stimmabgabe aufgerufen. Um die Gunst der Wähler bewarben sich 15 Parteien und 203 unabhängige Kandidaten, von denen viele der Kurdenpartei BDP zuzurechnen sind. Unter den Wahlberechtigten sind etwa 2,5 Millionen Menschen, die zur Stimmabgabe bereits seit einigen Wochen in die Türkei reisen konnten. Für sie wurden an Flughäfen Wahlurnen aufgestellt.

Leyla Zana ist gewählt

Auch die legendäre Kurdenpolitikerin Leyla Zana kehrt in die Volksvertretung von Ankara zurück. Zana errang in der südostanatolischen Privonz Diyarbakir ein Direktmandat, wie türkische Nachrichtender meldeten. Anfang der 1990er Jahre war Zana als frisch gewählte Abgeordnete aus dem Parlament geworfen und ins Gefängnis gesteckt worden, weil sie bei der Vereidigung Kurdisch sprach.

Zana kam erst 2004 aus der Haft frei und zog sich zunächst aus der Öffentlichkeit zurück. Seit einigen Jahren ist sie wieder politisch aktiv. Kurz vor der Wahl sollte sie auf Beschluss der Wahlkommission von der Kandidatur ausgeschlossen werden; nach Protesten aus allen Parteien wurden die Kandidaturen von Zana und anderen Kurdenpolitikern aber wieder zugelassen. Zana trat als nominell unabhängige Kandidatin mit Unterstützung der BDP an.
Christ erringt Mandat

Auf demselben Weg wurde auch der erste christliche Parlamentsabgeordnete der Türkei seit einem halben Jahrhundert gewählt. Der Anwalt Erol Dora, ein Mitglied der syrisch-orthodoxen Christen, gewann als unabhängiger Kandidat mit BDP-Unterstützung ein Direktmandat in der Provinz Mardin. Seit einem armenischen Politiker in den 1960er Jahren hat kein Christ mehr im türkischen Parlament gesessen. Mitte der 1990er Jahre wurde ein jüdischer Abgeordneter gewählt; seitdem gab es nur noch muslimische Parlamentsabgeordnete in Ankara.

rts/dpa


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