Patriarch oder „Gandhi“?

Die Türken wählen am 12. Juni ein neues Parlament. Umfragen sagen einen Sieg von Regierungschef Erdogan voraus. Der Chef der Oppositionspartei CHP, Kilicdaroglu, versucht mit Reformversprechen zu punkten.

Nicht kleckern, sondern klotzen, lautet ein altbewährtes Wahlkampfrezept, das auch in der Türkei viele begeisterte Anhänger hat. Vor den Parlamentswahlen am 12. Juni wetteifern die Politiker mit Versprechen und Projekten, und niemand tut dies mit so grandiosen Vorhaben wie Recep Tayyip Erdogan. Der Ministerpräsident hat den Bau eines neuen Kanals und zwei neuer Trabantenstädte in Istanbul angekündigt, er will die Hauptstadt Ankara und die Ägäis-Stadt Izmir neu gestalten, und am Mittwoch stellte er Pläne für neue Autobahnen, einen neuen Flughafen und ein neues Fußballstadion für die kurdische Großstadt Diyarbakir vor.

Die Großprojekte gehören zu Erdogans Strategie, die Türkei als aufstrebendes Land auf Wohlstandskurs zu präsentieren. Seit dem Regierungsantritt der Erdogan-Partei AKP im Jahr 2002 hat sich das Volumen der türkischen Wirtschaft verdreifacht, der frühere „kranke Mann am Bosporus“ ist heute Mitglied der G-20. „Weiter Stabilität – damit die Türkei weiter wächst“, lautet der Hauptslogan der AKP.

Laut den Umfragen trifft Erdogan damit bei vielen der 50 Millionen Wähler einen Nerv. In den Befragungen liegt die islamisch geprägte AKP zwischen 45 und 50 Prozent und damit etwa 20 Prozentpunkte vor der säkulären Oppositionspartei CHP. Die nationalistische MHP muss bei Werten von zehn bis zwölf Prozent um den Wiedereinzug ins Parlament bangen, denn in der Türkei gilt eine Zehnprozent-Hürde. Wegen dieser Hürde tritt die Kurdenpartei BDP mit nominell unabhängigen Kandidaten an, die per Direktmandat ins Parlament einrücken können. Wahlforscher gehen von bis zu 30 BDP-Abgeordneten im neuen Parlament mit seinen 550 Sitzen aus.

Während Erdogan mit seinen Wirtschaftserfolgen über die Marktplätze zieht, setzt sein Herausforderer, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, auf die Themen Korruption, Arbeitslosigkeit und Freiheitsrechte: Kilicdaroglu, der wegen seiner Nickelbrille den Spitznamen „Gandhi“ trägt, wirft Erdogan diktatorische Tendenzen vor und verspricht eine neue Ära der Reformpolitik. Der CHP-Chef hat jedoch das Problem, das seine eigene Partei in den vergangenen Jahren viele Reformen der Erdogan-Regierung als staatszersetzend ablehnte.

Kleinere Ausrutscher kommen hinzu. So kündigte Kilicdaroglu an, unter der CHP werde die türkische Wirtschaft jedes Jahr um sieben Prozent wachsen – um dann zu erfahren, dass die Wirtschaft unter Erdogan im vergangenen Jahr um satte neun Prozent zulegte.

Da alle Umfragen einen neuen Sieg der AKP erwarten lassen, wird schon darüber spekuliert, wie hoch dieser Sieg ausfallen wird: Die Frage lautet, ob die Erdogan-Partei eine Zweidrittelmehrheit der Parlamentsmandate erringen kann. Denn dann könnte die AKP den nach der Wahl anstehenden Beratungen über eine neue Verfassung ihren Stempel aufdrücken. Die neue Verfassung soll das derzeitige Grundgesetz ersetzen, das dem Land nach dem Militärputsch von 1980 von den Generälen verpasst wurde.

Erdogan hat angekündigt, die neue Legislaturperiode werde seine letzte sein. Da er mit seinen 57 Jahren noch zu jung fürs Rentnerdasein ist, vermuten seine politischen Gegner, er wolle die neue Verfassung so gestalten, dass die Türkei ein Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild erhält – mit ihm selbst als Präsidenten.

Was Erdogan auch immer antreibt: Wie alle anderen türkischen Spitzenpolitikern kämpft er mit harten Bandagen. Sein Hauptangriffsziel ist die rechte MHP, denn wenn die Nationalistenpartei aus dem Parlament kippt, wird die Zweidrittelmehrheit der AKP sehr wahrscheinlich. Als die MHP-Führung kürzlich durch die Veröffentlichung von Sex-Videos erschüttert wurde, richtete sich der Verdacht deshalb auf die AKP. Erdogan dementierte energisch. Und tatsächlich zeigen neue Umfragen, dass die Sex-Videos eher der AKP als der MHP schaden.

Im Wahlkampfgetöse fällt ein Thema durch Abwesenheit auf: Die EU wird nur selten erwähnt. Allenfalls EU-Minister Egemen Bagis spricht häufiger über den stockenden Beitrittsprozess. Aber auch er macht keinen Versuch, die nach Jahren der Zurückweisung durch wichtige EU-Staaten wie Frankreich chronisch gewordene Europa-Skepsis der Türken zu bekämpfen. Selbst ohne Mitgliedschaft könne die Türkei ein Land auf EU-Niveau sein, sagte Bagis kürzlich. Für die Türkei gehe es allein um die europäischen Werte – „und nicht um die europäischen Staaten“

via Neues Parlament: Türkei vor der Wahl: Patriarch oder „Gandhi“? – Politik – Tagesspiegel.


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