ANALYSE: Erdogan für Türken bisher Wikileaks-Gewinner

ANALYSE: Erdogan für Türken bisher Wikileaks-Gewinner

Mal war Uncle Sam ganz nackt, mal erschien die Symbolfigur der Weltmacht USA mit heruntergelassenen Hosen: Karikaturisten in vielen türkischen Tageszeitungen sahen die Regierung in Washington als den klaren Verlierer der Wikileaks-Enthüllungen.

Mal war Uncle Sam ganz nackt, mal erschien die Symbolfigur der Weltmacht USA mit heruntergelassenen Hosen: Karikaturisten in vielen türkischen Tageszeitungen sahen die Regierung in Washington als den klaren Verlierer der Wikileaks-Enthüllungen. Zwar kommt die türkische Führung in den Depeschen der US-Diplomaten bei weitem nicht immer gut weg: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sein Führungszirkel werden mitunter als machtversessen, islamistisch, amateurhaft und korrupt beschrieben. Doch großen innenpolitischen Flurschaden muss Erdogan nach Meinung von Beobachtern nach derzeitigem Stand trotzdem nicht befürchten.

Bis zum Mittag waren knapp 300 der insgesamt mehr als 250.000 US-Dokumente veröffentlicht. In den rund zwei Dutzend Depeschen von US-Diplomaten in der Türkei zwischen dem Jahr 2004 und Anfang dieses Jahres erscheinen Erdogan und seine Leute mal als islamistische Eiferer, die eine höchst verdächtige Iran-Politik betreiben und Großmachtsambitionen haben, und mal als pragmatische Reformer und Demokraten, die von autoritären Kräften in Justiz und Armee angegriffen werden. Erdogan sei der einzige Partner, der die US-Vision einer demokratischen und europäisch integrierten Türkei voranbringen könne, heißt es an einer Stelle,

Dem Regierungschef wird aber auch vorgehalten, er halte sich für einen von Allah auserkorenen Führer seines Landes. Erdogans langjähriger Berater und heutiger Außenminister, Ahmet Davutoglu, sei sogar von einem Kabinettskollegen als islamistischer Hardliner und „extrem gefährlich“ bezeichnet worden, schrieben die US-Diplomaten. Der israelische Botschafter in Ankara, Gaby Levy, gab zu Protokoll, es müsse nicht lange nach tiefgründigen Motiven für die Krise im Verhältnis zwischen der Türkei und Israel gefahndet werden, weil es ganz persönliche Faktoren bei Erdogan gebe: „Er ist ein Fundamentalist. Er hasst uns aus religiösen Gründen.“

Doch es sieht bisher nicht danach aus, als ob das dem türkischen Regierungschef ein halbes Jahr vor den nächsten Parlamentswahlen im Juni politisch schadet. „Wenn die Amerikaner etwa den Außenminister Davutoglu wegen einer neo-osmanischen Politik kritisieren, dann kommt das bei den Türken gut an“, sagt der Soziologe Ferhat Kentel. Sollte sich der Eindruck durchsetzen, dass die Erdogan-Regierung eine von den USA unabhängige Außenpolitik betreibe, so werde das dem Ministerpräsidenten nützen. Schließlich sind weder die USA noch Israel in der Türkei sonderlich beliebt. Auch die Erwähnung diverser Erdogan-Minister wegen angeblicher Korruption in den US-Geheimdepeschen reißt in der Türkei niemanden vom Stuhl. „Das weiß ohnehin jeder“, sagt Kentel.

Nur eine Angelegenheit könnte für Erdogan innenpolitisch unangenehm werden: In einer Nachricht für Washington schreiben die US-Diplomaten von Informationen, wonach der türkische Ministerpräsident acht verschiedene Konten in der Schweiz hat. Erdogans eigene Erklärungen, wonach er sein Vermögen unter anderem großzügigen Geschenken von Hochzeitsgästen verdankt, seien „lahm“, schreiben die Diplomaten. Die Ankaraner Opposition will die Vorwürfe sehr genau prüfen, doch bisher gebe es keinerlei Beweise für die Schweizer Kontenvorwürfe gegen Erdogan, merkte die an sich regierungskritische Zeitung „Milliyet“ an.

Angesichts der für sie günstigen Stimmungslage im eigenen Land sieht die türkische Regierung bisher keinen Grund dafür, öffentlich Verärgerung über die nicht immer schmeichelhaften Lagebeschreibungen der US-Diplomaten zu äußern. Der viel gescholtene Außenminister Davutoglu, der zur Zeit der Wikileaks-Veröffentlichungen einen Termin mit Hillary Clinton in Washington hatte, war bei seinen öffentlichen Auftritten die Ruhe und Freundlichkeit selbst. Aber er versäumte es nicht, eine Nachricht über den großen Teich zu schicken, die vielen Türken gefallen dürfte: Ministerin Clinton habe sich bei der Türkei entschuldigt, sagte Davutoglu.

Von Thomas Seibert / 30.11.10 / AFP

viaANALYSE: Erdogan für Türken bisher Wikileaks-Gewinner – otz.de.


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