Entwurf einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Bildung und Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund

Offener Brief

Zusammenfassung und Stellungnahme zum „Entwurf einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Bildung und Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund (2008/2328(INI)), vorgelegt vom Ausschuss für Kultur und Bildung des Europäischen Parlaments vom 09.03.2009

In NRW haben über 30% der 15 Jährigen Schüler einen Migrationshintergrund. Der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund in Essen ist 30,6%, in Gelsenkirchen 38,8% und in Duisburg sogar 41,4%. Nahezu die Hälfte dieser Jugendlichen hat einen türkischen Migrationshintergrund. Der Schulerfolg, gemessen an dem Anteil Gymnasiasten ist bei den verschiedenen Migrantengruppen sehr unterschiedlich. Ein Großteil der Schüler aus den weniger erfolgreichen Migrantengruppen verlässt die Schule ohne einen Abschluss. Trotzt erfolgreichem Schulabschluss und bei gleichem Notendurchschnitt, sind die Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (speziell türkischer Herkunft) auf dem Ausbildungsmarkt um den Faktor 2-3 schlechter als bei der Vergleichgruppe der Deutschen Jugendlichen.

Daraus ergibt sich nach unserem Ermessen ein enormer Handlungsbedarf, sowohl auf Seiten der Migranten die mehr integrative Anstrengung durch sprachliche Qualifizierung, sowie gesellschaftliche Partizipation erfordert, als auch auf Seiten der Aufnahmegesellschaft, die zu mehr Akzeptanz und Toleranz der Kultur und Sprache, sowie der Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für die Integration von Migranten führen muss. In diesem Zusammenhang wollen wir die jüngst vom Europäischen Parlament veröffentlichten „Bericht über die Bildung und Erziehung von Kindern mit Migrationshintergrund“ kurz kommentieren.

Das Europäische Parlament,
– gestützt u.a. auf Artikel 149 und Artikel 150 des EG-Vertrags,
– gestützt auf Artikel 14 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, unter Hinweis auf die Richtlinie 77/486/EWG des Rates vom 25. Juli 1977 über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern1,
– unter Hinweis auf die Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft2,
– in Kenntnis der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Lissabon vom 23. und 24. März 2000,
– in Kenntnis der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 13. und 14. März 2008,
– unter Hinweis auf seine Entschließung vom 13. Oktober 2005 zur Integration von Einwanderern durch mehrsprachige Schulen und Unterricht in mehreren Sprachen3

1 ABl. L 199 vom 6.8.1977, S. 32.
2 ABl. L 180 vom 19.7.2000, S. 22.
3 ABl. C 233 E vom 28.9.2006, S.121.
1. besteht darauf, dass Kinder und Erwachsene mit Migrationshintergrund sich nur dann voll integrieren können, wenn sie die Möglichkeit erhalten, die Sprachen des Aufnahmelandes zu erlernen und die Bereitschaft vorhanden ist, dieses Angebot auch anzunehmen;

2. fordert die nationalen Regierungen auf, sicherzustellen, dass Kinder von Migranten mit geregeltem Aufenthaltsstatus Zugang zu Bildung, einschließlich Kursen zum Erwerb der Amtssprachen des Aufnahmelandes, aber auch zur Forderung der Muttersprache und der Kultur des Herkunftslandes, erhalten;

3. hält es für entscheidend, dass die Eltern von Migrantenkindern, insbesondere deren Mutter, an den Programmen zum Erlernen der Amtssprachen des Aufnahmelandes teilnehmen, damit die Kinder nicht sozial ausgegrenzt bleiben und damit sie sie bei der schulischen Integration unterstutzen konnen;

4. ist der Ansicht, dass die Erhaltung und Forderung der Mehrsprachigkeit Bestandteil jedes Schullehrplans sein muss; vertritt mit Nachdruck die Auffassung, dass bereits im Vorschulalter zum Sprachenlernen ermuntert werden sollte, um die Integration von Migranten zu fordern; ist jedoch der Ansicht, dass der Stellenwert im Lehrplan und die Organisation des Unterrichts in der Muttersprache ausdrücklich den Mitgliedstaaten überlassen werden sollten;

5. unterstreicht, dass die Entwicklung interkultureller Kommunikationsfähigkeiten bei Kindern, und zwar sowohl bei den Kindern mit Migrationshintergrund als auch bei den Kindern der Aufnahmeländer, wichtig ist, und vertritt die Auffassung, dass die Fähigkeit, anderen seine eigene Kultur zu vermitteln und die Kultur und die Werte der anderen zu verstehen, zu einem zentralen Element der Schlüsselkompetenz „Kulturbewusstsein und kulturelle Kompetenz“ werden sollte;

6. schlägt vor, dass legale Migranten fur den Besuch von Sprachkursen zusätzliche finanzielle und administrative Unterstutzung durch ausgebildetes Personal erhalten sollten, das auch die Muttersprache der Migranten versteht;

7. weist darauf hin, wie wichtig das Erlernen der Muttersprache und der Sprachen des Wohnsitzlandes sowie der Erwerb von Lese- und Schreibfertigkeiten für Migrantenkinder bereits im Vorschulalter sind;

8. erkennt an, wie wichtig es für die Erhaltung des kulturellen Erbes der Migranten ist, dass Unterrichtsstunden in deren Muttersprache in den Lehrplan aufgenommen werden;

9. hebt die Bedeutung des Sports in der allgemeinen und beruflichen Bildung und dessen wichtige Rolle fur die Integration und soziale Teilhabe von Personen aus weniger privilegierten Verhältnissen hervor; empfiehlt die umfassende Berücksichtigung der wichtigen integrativen Rolle des Sports für Migranten in der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten;

10. unterstreicht, wie wichtig die Einbeziehung junger Migranten in die verschiedenen außerschulischen Aktivitäten ist, da diese eine ausgezeichnete Möglichkeit für die Integration in das Schulleben darstellen;

11. unterstreicht, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Schule, in der Weiterbildung und am Arbeitsmarkt besser bestehen, je früher und erfolgreicher sie in die Schulen integriert werden; ist fest davon überzeugt, dass frühkindliche Erziehung im Vorschulalter diese Aussichten der Kinder erheblich verbessert, und fordert die Mitgliedstaaten daher auf, die Teilnahme von Migrantenkindern an der Vorschulerziehung zu verbessern;

12. legt den Mitgliedstaaten nahe, die Bildung von Ghettoschulen und Sonderklassen fur Migrantenkinder zu vermeiden und eine integrative Bildungspolitik zu fordern, bei der das Bildungsniveau, aber auch die persönlichen Bedürfnisse dieser Kinder bei der Klasseneinstufung berücksichtigt werden;

13. halt es für notwendig, dass die Bedürfnisse von Migrantenkindern starker bei der Gestaltung des Lehrplans in den von ihnen besuchten Schulen berücksichtigt und die Lehrer auch mit interkulturellen Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie möglichst effektiv mit der Vielfalt in den Schulen umgehen können;

14. vertritt die Auffassung, dass die Integration von erwachsenen Migranten und ihren Kindern durch Erwachsenenbildungsangebote für Migranten gefordert werden kann, und betont daher die Notwendigkeit, das lebenslange Lernen bei den Eltern dieser Kinder massiv zu fordern;

15. ist besorgt darüber, dass viele Migrantenkinder vorzeitig die Schule verlassen, und ist der Auffassung, dass Bemühungen unternommen werden müssen um sicherzustellen, dass die Kinder mit Migrationshintergrund ihre schulische Ausbildung abschließen;

16. betont in diesem besonderen Zusammenhang die Bedeutung der Mobilität von Lehrern als integraler Bestandteil der Lehrerbildungsprogramme; ist der Ansicht, dass Lehrer die Möglichkeit haben sollten, ein oder zwei Semester an Gastuniversitäten im Ausland zu verbringen;

17. ist der Ansicht, dass Schulen Lehrer mit Migrationshintergrund benötigen, da sie für ihre Kollegen eine Quelle wichtiger Erfahrungen darstellen, den Erfolg der sozialen Integration verkörpern und als Vorbilder für Kinder mit Problemen dienen konnten;

18. unterstreicht die Notwendigkeit von Beratungsdiensten für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die ihnen dabei helfen, den Kulturschock zu überwinden und sich an die Gesellschaft des Aufnahmelandes anzupassen;

19. schlägt vor, dass von jedem Mitgliedstaat Bildungsprogramme zur Vertiefung des Wissens über die Menschenrechte unter besonderer Hervorhebung der Gleichheit, Integration und persönlichen Freiheit entwickelt werden, um der offenbar mit Migranten und deren Kindern zusammenhangenden und sich manchmal sehr rasch ausbreitenden Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung vorzubeugen;

20. erinnert daran, dass Diskriminierung aufgrund der Rasse und der ethnischen Zugehörigkeit im Bereich der Bildung durch die Richtlinie 2000/43/EG untersagt wird, und fordert die Achtung der Diskriminierung aus egal welchen Gründen, einschließlich Nationalität und Wohnrechtsstatus, im Bildungswesen;
Erfolgs-orientierte Ansätze, welche die Achtung und Schätzung der mitgebrachten Kultur und der Sprache von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte angemessen würdigt (Skandinavische Länder, Kanada), gibt Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ein Gefühl der Zugehörigkeit und ist für deren Persönlichkeitsentwicklung von besonderer Bedeutung. Defizit-orientierte Modelle (Missachtung der Sprachen und Kultur von Migranten, Verbot der Nutzung der Muttersprachen, Sonderschulzuweisung von Kindern aufgrund sprachlicher Defizite, Bildung von Sonderklassen aus ebensolchen Gründen) hingegen sind eher auf die Schwächen und die Andersartigkeit fixiert und stärken das Gefühl des Andersseins. Diese Vorgehensweise fördert die Passivität und mindert somit die Erfolgsaussichten von Förderansätzen.

Dagegen ist die Toleranz und die Akzeptanz der sprachlichen und kulturellen Vielfalt, wobei die Vielfalt heute die Regel als die Ausnahme ist, bietet Raum für erfolgs-orientierte Ansätze zur Förderung von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte. Die Förderung der vorhandenen natürlichen Ressourcen eines Menschen führt zur Stärkung des Selbstwertgefühls und somit seiner Persönlichkeit. Wir brauchen eine Gesellschaft mit starken, selbstbewussten Persönlichkeiten um die Zukunft besser gestalten können.

Im Hinblick auf eine gesunde Integrationsentwicklung und zur Vermeidung von Parallelgesellschaften ist das Zusammenwachsen einer Gesellschaft sehr wichtig. Dies gelingt aber nur, wenn wir uns gegenseitig Vertrauen schenken, aufeinander zugehen und die Dialogbereitschaft bei allen Beteiligten sehr hoch ist.
Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ali Sak


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: